Schriftrollen – Fragen zu den friesartigen Zeichungen


Deine Zeichnungen anzuschauen fühlt sich für mich immer an wie in ein Paralleluniversum einzutauchen – als wäre ich mitten in einem Science-Fiction-Roman. Die Figuren scheinen auf den ersten Blick bekannt, da gibt es Engel, Hunde, Vögel, Fische, Raumschiffe ... und bei genauerem Hinsehen ist es doch etwas Abstraktes … Engelartiges, Hundeartiges, Vogelartiges, Fischartiges, Raumschiffartiges ... Wohin möchtest du die Betrachtenden führen mit diesen Figuren, die man immer nur annähernd etwas Bekanntem zuordnen kann?

Die Formen zeichnen sich quasi selbst, ich gebe ihnen den äußeren Rahmen. Figuren und Szenarien organisieren sich eigenständig. Mit links entstehen dabei andere Formen als mit rechts. Es ist mir wichtig, dass die Form nicht konkret wird – Konkretes darf sich dabei gern andeuten, soll aber im Potenzialraum verharren. Vergleichbar dem Wasser, welches das Potenzial zu vielen möglichen Eiskristallformen hat, ohne diese in seinem flüssigen Basiszustand bereits festzulegen.

Du zeichnest also deine innere Welt?

Die innere Welt ist die äußere Welt. Das, was ohne Form ist, ist Verbundenheit. Es gibt keine Trennung. Jedes menschliche Wesen hat die Fähigkeit zu unzähligen Individualitäten. Ich zeichne eine visuelle Vision, die mich seit jeher magnetisch anzieht, die ich für andere freilegen möchte. Dazu begebe ich mich ganz in diese Vision hinein, werde im handelnden Prozess gewissermaßen selbst zur Vision.

Besonders bei deinen hier thematisierten Zeichnungen, den so genannten „Schriftrollen“, wie du sie nennst und die in deinem Werk im letzten Jahrzehnt immer wieder auftauchen, scheint es ganze Geschichten wie Filmsequenzen zu geben – die sich beim Zeichnen entwickeln? – oder gibt es beim Beginn schon ein Drehbuch? – oder gibt es weder vorher noch beim Zeichnen eine Geschichte?

Es gibt tatsächlich kein Drehbuch. Ich stelle lediglich den Rahmen zur Verfügung. Die Figuren entwickeln sich quasi „von selbst“. Die Geschichten entstehen durch den Betrachtenden – im Moment des Schauens der Erscheinung einer Wirklichkeit.

Es handelt sich um die Wirklichkeit und trotzdem sind die Figuren nicht konkret, wie das?

Das universelle Potenzial der Form ist immer da. Es geht mir um die Möglichkeit der Geschichte, nicht um die Geschichte selbst. Und um den Signaturabdruck dieses Potenzials.

Das heißt, du stellst dem Betrachtenden sozusagen den Rahmen zur Verfügung, der dessen innere Fantasie die eigene einmalige Geschichte entwickeln bzw. fortschreiben lässt?

Ja.

Die fertige Zeichnung, wie zum Beispiel 2015_9, entwickelt sich also intuitiv von Anfang an und die auf ihr erwachenden Figuren führen ein "Eigenleben", so wie es manche Romanautoren beschreiben, wenn ihre Charaktere plötzlich ein anderes Schicksal erleben als eigentlich ursprünglich geplant war?

Die Zeichnung entwickelt sich intuitiv. Manche Formen erscheinen an verschiedenen Stellen und erhalten neue Umgebungsverbindungen. Sie setzen sich zusammen wie ein Puzzle, die Lebendigkeit des Vorgangs erhält sich solange, wie noch nicht alle Puzzleteile gesetzt sind. Das zusammenzusetzende Bild ist am Anfang dabei unbekannt.
Ja, es kann als eine Art „Fortsetzungsgeschichte“ betrachtet werden. Ich gebe den Protagonisten Raum und Atem, ihre Gestalt und Position finden sie selbst.
Die Zeit spielt keine Rolle oder vielmehr ist das Empfinden von Nichtzeit die Voraussetzung. Es gibt kein konkretes Ziel oder Termin, vielmehr eine Ausrichtung, man könnte sagen Gravitation, und die Zeichnungen entwickeln sich außerhalb der Zeit, stets in der „meditativen“ Haltung, bereits am Ziel zu sein – wie Wasser, das gleichzeitig überall ist und in seiner Essenz unbeeinflusst bleibt von es durchdringenden Lichtstrahlen oder von sich einspiegelnden Bildern.

Gibt es auch zu den Schriftrollen parallel entstandene Texte?

Ja, sie sind von Anfang an zeitgleich entstanden und unter dem Titel „Flussumkehr“* zusammengefasst.

Flussumkehr klingt wie etwas Unmögliches. Was heißt das für dich?

Auf der Ebene der Zeit blicken wir in Richtung einer Zukunft oder aber einer Vergangenheit. In der Perspektive des „klaren Wassers“ fällt diese Unterscheidung in sich zusammen. Die Frage, was Quelle, was Mündung, ebenso. Auf unseren inneren Denk- und Fühlkosmos nun bezogen, heißt Flussumkehr die vollständige, unbegrenzte und bedingungslose Wandlung in vollkommener Gegenwart. Vollkommene Gegenwart heißt „klares Wasser“. Klares Wasser enthält ständig sämtliche Möglichkeiten. Man könnte sagen, die Zeit wird in die vollkommene Gegenwart eingebogen.

Wie viele deiner Schriftrollen gibt es eigentlich?

Inzwischen sind es 45.

Wie fühlst du dich, wenn du am Beginn einer neuen Schriftrolle vor der leeren Papierrolle sitzt?

Am Anfang gibt es alle Möglichkeiten, es ist, wie Schritte in frisch gefallenen Schnee zu setzen. Da ist Neugierde darauf, wie sich die Zeichnung entwickeln möchte. Da gibt es keinen vorgefertigten Plan, nur eine Gravitation. Neuanfänge sind ein relativ seltener und darum so wertvoller Moment, ich finde das wunderbar.
Es fühlt sich an wie beim Gehen: Alles ist vorbereitet, gepackt, der Startpunkt ist erreicht und jetzt gibt es nur noch das Gehen, die reine Konzentration auf das Ein-Schritt-nach-dem-anderen.

Und wie fühlst du dich, wenn es fertig ist, woran merkst du, dass du nichts mehr hinzufügen möchtest?

Es hört allmählich auf zu fließen.

Welches Papier verwendest du?

Aquarellkarton, 300 g mit deutlicher Körnung, ein relativ starres Papier, bei dem die Rollenwölbung bestehen bleibt. Zuerst schneide ich das Papier zu – in die jeweilige Größe der späteren Schriftrolle, die kürzesten sind bisher 98 cm, die längsten 3,60 m. Beim Zeichnen fixiere ich das Papier mit Flusssteinen.

Du definierst das Format also bereits, bevor du die Zeichnung beginnst? Oder definiert die Zeichnung das Format?

Bei den Schriftrollen habe ich die Entscheidung für das endgültige Format getroffen, bevor ich mit dem Zeichnen beginne.

Wann hast du begonnen, Schriftrollen zu zeichnen?

Das begann mit dem ersten Flussgehen 2012–2013. Wie das Gehen waren sie gewissermaßen die explorative Praxis an der Schnittstelle von Form und Formlosigkeit.

Du gehst mittlerweile sehr lange Distanzen. Deine letzte Gehmeditation, wie du es nennst, umfasste über 100 km an einem Stück! Wie kann ich mir dabei den Bezug zu deinem künstlerischen Wirken vorstellen?

Das Zeichnen geschieht nach denselben Prinzipien wie das Gehen. Gehen ist so gewissermaßen ein Gleichnis für das Zeichnen an den Schriftrollen. Auch bei den Schriftrollen scheint es eine Grenze zu geben, wenn aber der mentale Rahmen neu gesetzt wird, löst sich diese auf, fluktuiert. Es geht um das Management von innerer Zeit, innerer Distanz, inneres Erkennen von Grenzen und deren Neugestaltung. Es geht darum, in jedem Schritt und in jedem Atemzug gegenwärtig zu sein – diese Wahrnehmung ist bei jeder Distanz gleich, vom ersten bis zum letzten Kilometer. Aber das Potenzial der inneren Interaktion entfaltet sich oft erst nach einer bestimmten Zeit des Gehens und Distanzdurchgehens. Erst dann geben sich eventuell und mühelos die möglichen Geschichten preis.

Was nimmst du von solch einer Strecke mit ins Atelier?

Ganz konkret: Steine, die ich beim Gehen (Flussgehen) im Wasser finde, die durch das Fließen geformt und damit selbst ein Abbild des Fließens sind, bilden wohl ein Bindeglied zwischen dem realen Gehen und dem „Begehen“ der Schriftrollen (wie oben schon erwähnt, fixiere ich den halbaufgerollten Zeichenkarton damit und manchmal lagen sie auch als „Steuersteine“ ein paar Wochen auf bestimmten Stellen im Zeichnungsgefüge, um der „Bildfluss“ im Sinn der Gesamtausrichtung über die Zeit zu lenken).

Ich meinte mehr, ob beim Gehen innere Bilder entstehen, die später Eingang in deine Kunstwerke finden …

Zeichnen ist wie Gehen, eine Parallelerscheinung, die dasselbe ausdrückt, nur in anderer Form – nichts, was sich gegenseitig ergänzt. Gehen ist deshalb auch keine Vorstufe für das Zeichnen und es entstehen auch keine inneren Bilder, die ich später auf das Papier bringe. Gehen ist für mich eine genauso sich erfüllende Praxis wie das Zeichnen, nur dass beim Zeichnen ein bleibendes Werk dabei entsteht. An sich sind der Prozess und die innere Haltung die gleiche.

Beim Lesen deiner Texte „Flussumkehr“ und „Lebendiges Wasser“ ist die starke Affinität zum Wasser, speziell zum Fluss, unglaublich präsent. Warum gerade Flussgehen?

Es ist die Suche nach der Verbindung mit dem Wasser, nach dem „Jetzt“ des Flusses. Ich habe versucht, das Prinzip des Flusses bzw. des Fließens des Wassers von der Quelle bis zur Mündung zu verstehen, das Wesen des Wassers zu erkennen. Den Impuls, in den Dialog mit dem Fluss zu gehen, erfuhr ich schon während der Kindheit. Im fließenden Wasser gibt es keinen Anfang und kein Ende. Um die Gesamtheit eines Eindruckes zu ahnen, muss man quasi selbst fließendes Wasser werden, sich vorurteilsfrei mit der Strömung verbinden, dem Fließen hingeben. Form zerfällt, das Lebendige fließt frei von Form. Gegenwart ist das klare Wasser. Ist Zukunft, das was kommt oder das was geht? Ist Vergangenheit, das was geht oder das, was kommt? Die Perspektive des klaren Wassers kehrt die Flussrichtung um. So wird das Flussgehen zur Praxis des „im Jetzt sein“ – wie Atmen … Wasser heißt Poesie der Begegnung von Form und Formlosigkeit und die Frage nach der Übertragung.

Was inspiriert dich zu diesen Zeichnungen?

Wie beim Gehen (Flussgehen) ist das Entstehen einer Schriftrolle/Zeichnung ein Prozess des allmählichen Wachsens und der Wandlung, jede Geste ist Ewigkeit, ist Augenblick ohne Zeit, ohne Grenze. Schriftrolle, das heißt „ohne Anfang – ohne Ende“. Beim Zeichnen sehe ich immer nur einen Ausschnitt, nie das ganze ausgerollte Blatt. Die Wahrnehmung ist „unendlich“, um jeden einzelnen Moment als vollkommen sichtbar werden zu lassen. (So wie auch beim Flussgehen jeder einzelne Schritt Unbegrenztheit berührt.) Beim Zeichnen habe ich immer nur den aktuellen Bereich des Zeichenkartons aufgerollt und rolle diesen im Fortgang des zeichnerischen Verlaufs nach und beschwere ihn mit Flusssteinen. Das ist wie dem Fluss zu folgen.
Die Höhe der Schriftrolle entspricht gerade meiner Unterarmlänge, so dass die ganze Fläche in schreibzeichnender Bewegung zugänglich ist. Ich zeichne dabei abwechselnd mit der linken und rechten Hand.

Wonach entscheidest du, ob du gerade mit links oder rechts zeichnest?

Ich beginne meist linkshändig am rechten Rand. Ursprünglich bin ich ja Rechtshänder, hatte aber schon als Kind viele Dinge bewusst mit links auch versucht. Wie in einer Art Sehnsucht nach Symmetrie.
Mit der linken Hand zu zeichnen, erzeugt eine eigene Individualität, dann geraten auch die gezeichneten Formen anders, mit der linken Hand scheint jeder Strich ganz neu, explorativ. Wie ein Kind, dass die Dinge der Welt zuerst als einmalig erfährt, weil die linke Seite nicht mit den eintrainierten, ständig erprobten und schematisierten Rechtsroutinen verknüpft ist.
Linkshändig geführt, beginnt die Zeichenfeder unwillkürlich Geschichten zu erzählen, während die rechte Hand mehr versucht, Strukturen aufzubauen
Ich moderiere das und versuche beides zu überlagern, indem ich linkshändige und rechtshändige Zeichenphasen abwechsle, in pflugartiger Hin-und-her-Bewegung wächst so das gesamte Zeichnungsgefüge der Rolle zusammen. Es offenbart seine eigene Identität im Verlauf des richtungswechselnden Schreibzeichenprozesses, nach mehreren Wochen. Vorher ist mir das gar nicht bewusst.

Wann entscheidet sich, ob die Zeichnung eine wild überbordende Farbigkeit erhält (wie in etwa 2022_20) oder eher zurückhaltend koloriert wird (wie 2014_16)?

Die Grundzeichnung wird mit der allerfeinsten erhältlichen Tuschefeder ausgeführt. Die Entscheidung über die Farbe geschieht intuitiv. Die zeichnerische Struktur steht am Anfang, die Farbentscheidung folgt einer Eigendynamik, die sich auf dem Weg ergibt. Oft spielt die Jahreszeit der Entstehung eine Rolle: Die zurückhaltenden bis monochromen sind zumeist Winterzeichnungen, im Sommer fühlt es sich durch die höhere Lichtintensität natürlicher an, mehr Farbigkeit zu entfalten. Im Winter sind die Sehorgane empfindsamer für Hell-Dunkel-Nuancen.

Wie lange arbeitest du eigentlich an einer Zeichnung/Schriftrolle?

Meist mehrere Monate, oft 6 Wochen bis drei Monate, in Einzelfällen auch ein ganzes Jahr.

Du arbeitest mehrzügig/parallel an Bildern, Zeichnungen und Plastiken. Wovon ist es abhängig, für welche Arbeit du dich gerade entscheidest, zum Beispiel morgens im Atelier eher an einem Bild, abends am Schreibtisch eher an einer Zeichnung  ... folgst du einer Routine oder eher der Intuition?

Ich entwickele immer neue Rituale, z. B. verschiedene Bücher an bestimmten Orten zu lesen, bei Sonnenaufgang ein bestimmtes Atemritual in Bezug auf Himmelsrichtungen durchführen, im Atelier am Morgen an einer bestimmten Werkgruppe zu arbeiten, mittags an einem anderem Ort an einer anderen Bildgruppe oder nach Sonnenuntergang die aktuelle Schriftrolle weiterzeichnen.
Ich richte also das ganze Leben so auf die Schaffensprozesse aus. Die Rituale werden dabei ein Trägertool zum Hervorbringen des Themas und sie ändern sich auch immer wieder – ich konfiguriere sie neu und justiere nach. Es gibt immer wieder Phasen des Experimentierens, Verwerfens, Scheiterns, Wagens, Wandelns – ein organischer Prozess, mit dem ich mich immer wieder synchronisiere und die Aspekte des Lebens an der Vision neu abgleiche. Wandelnde Rituale heißt wandelnde Formen, damit das klare reine Leuchten des Absoluten hervortritt, so dass die vollkommene Gegenwart des ewigen Seins für die Betrachtenden ansprechbar und erfahrbar wird.

Wenn ich eine deiner Schriftrollen mit größerem Abstand betrachte, sehe ich kontrastreiche Flächen, die von Nahem zu vibrieren scheinen. Wie entsteht das?

Durch sehr dünne Tuschelinien. Ich benutze dafür die feinsten erhältlichen Zeichenfedern und verdichte nach und nach die Linien. So entstehen alle Flächen auf der Zeichnung. Es ist wie beim Gehen: Je weiter man gehen möchte, desto langsamer muss man sich bewegen.

Manche Verläufe erinnern an Neuronen/Synapsen ist das Zufall? Möchtest du sozusagen Gedankenbahnen sichtbar machen?

Ich habe schon als Kind gern Landkarten gezeichnet – mit Straßen, die Punkte einer Fläche, eines Raumes verbinden, ganz ähnlich wie Synapsen. Eine Landkarte ist quasi ein Abbild der realen Welt, es interessiert mich, wohin die Straßen/Synapsen führen, wie und wo sie sich verbinden, Zwischenraum gestalten, sich aufeinander beziehen und verlieren. Ich spüre die Poesie in diesem Zwischenraum und möchte sie hervorrufen, den Ort zwischen Text und Form ausfindig machen und im Vorgehen des schreibenden Zeichnens besiedeln … und so diesen Zwischenraum für die Kunst des Betrachtens bewohnbar machen.



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* Text „Flussumkehr“ 2012–2024

Das Interview wurden mit verschiedenen Gesprächspartnern im Juli 2024 geführt.