Das Experiment ist unter Politikern – zumal
konservativen – nicht sonderlich beliebt. In Kunstkreisen hingegen steht
es vergleichsweise hoch im Kurs. Künstler probieren aus, betreten Neuland,
zeigen Perspektiven auf, provozieren auch bisweilen. Ohne das Experiment,
das immer auch ein Wagnis ist, kann eine Weiterentwicklung in der Kunst
kaum stattfinden. Andererseits hat sich auch ein inflationärer Gebrauch
etabliert: Ob zur Biennale oder Documenta, auf Kunstmessen oder in den
angesagten Galerien: experimentelle Kunst erscheint fast gleichbedeutend
für Avantgarde und Hipness und somit als Garant für Besucherzahlen und
Verkaufserfolge. Allerdings: nicht immer, wo Experiment drauf steht ist
auch Experiment drin... So haben unbegründete und inhaltslose
Etikettierungen beim Betrachter freilich zu einer gewissen Abstumpfung
geführt.
Indes, dort, wo der Begriff experimentelle Kunst durchaus seine
Berechtigung hat, bleibt das tatsächliche Verständnis beim Publikum
oftmals auf der Strecke. So etwa z.B. bei dem Annaberger Ausnahmekünstler
Carlfriedrich Claus, der sich selbst weniger als Künstler denn als
„Experimentator“ verstand und sein gesamtes Leben als schonungsloses
„Selbstexperiment“ führte.
Michael Goller hat diese Ausstellung „Autistisches Experiment“ betitelt,
nach dem zentralen Zyklus von vier großformatigen Leinwandgemälden, die
zwischen 2008 und 2010 entstanden. Versucht Goller damit auf der
Erfolgswelle des „Experimentellen“ mitzuschwimmen? Was soll an diesen im
Grunde genommen relativ klassischen Gemälden experimentell sein – und was
gar autistisch?
Wer Goller näher kennt, der weiß, dass bei ihm nichts von ungefähr kommt.
Er ist ein Künstler, der sich seine Gedanken macht. Ein Künstler, der
ständig reflektiert über das, was er gegenwärtig tut, über das, was er
gerade getan hat und über das, was er künftig tun möchte oder tun wird.
Solcherlei Denkarbeit ist in der Malerei nicht ungewöhnlich, sie gehört
dazu. Jeder, der schon einmal vor einer weißen Leinwand saß, weiß das aus
eigener Erfahrung. Worin liegt also das Experimentelle bei diesem Zyklus?
Zunächst fällt auf, dass sich Goller, was die Farbigkeit anbelangt, im
Gegensatz zu seinen sonstigen Arbeiten bei diesem Zyklus äußerste
Zurückhaltung auferlegt hat. Malerei in bloßem Schwarz-Weiß ist mit
Sicherheit nicht gerade das Nonplusultra für die Arbeit an der Staffelei
mit Pinsel und Farben. Allgemein verbindet man mit der Malerei ja eher
auch die Farbigkeit, das Monochrome findet sich eher in der Zeichnung oder
auch in der Druckgrafik. Vom Rausch der Farben spricht man bei den
Expressionisten oder man lobt den sensiblen Umgang mit Farben der
sogenannten Dresdner Malkultur.
Doch so ganz reizlos dürfte die Malerei in Schwarzweiß wohl doch nicht
sein. Es findet sich sogar ein Fachbegriff dafür: Grisaille und ebenso
lassen sich prominente Vertreter anführen: z.B. Picasso (Guernica) oder
Gerhard Richters Gemälde aus den 60er und 70er Jahren.
Gollers Interesse an der Reduktion der Farbe ist auf eine Art Konzept
zurückzuführen. Und diesem Konzept liegt auch das Experiment zugrunde.
Experiment, lat. Versuch, hat den gemeinsamen Wortstamm mit expedio, lat.
loslassen, sich frei machen, eigentlich „ohne Füße“.
Es war also eine bewusste – konzeptionelle – Entscheidung, die
allermeisten Farbtuben auszusondern und beiseite zu legen. Damit
entstanden unbekannte – grundsätzlich andere Bedingungen, als
Voraussetzung für ein neues, freies Arbeiten im Experiment.
Doch jedes Experiment braucht eine Fahrplan. Bei Goller hängt dieser Plan
an der Atelierwand links neben der Staffelei und formuliert für den
Künstler selbst den Prozess der Bildwerdung. Eine Art Leitfaden, ein
Mittel zur Selbstverständigung über die eigene Arbeit. Es gibt zunächst
eine These, die im Laufe des Experimentes herausgefordert wird und nach
Bestätigung oder Widerlegung verlangt.
Man kann vielleicht – vereinfacht ausgedrückt – von einem Wechselspiel
sprechen, das bei Goller hier vonstatten geht und letztlich zu diesen
Bildern führt.
Ausgangspunkte sind immer Skizzen, die Goller unterwegs unmittelbar aus
Eindrücken in ein Skizzenheft notiert: München, Prag, Dörfer,
Architekturen. Sie bilden den konkreten Pol, das vom Auge aufgenommene,
die als wiedererkennbare und mehr oder weniger konkret zu verortende
Elemente in den Bildern auftauchen. Man kann Landschaften und Häuser
gerade in dieser Ausstellung beim Blick durch die Fenster als eine
Fortsetzung der realen Welt nachvollziehen, die im Kunstwerk eine Brechung
erfährt.
Am meiner Wortwahl „auftauchen“ merken Sie schon, dass mit jenen Elementen
wohl etwas im Laufe des Experimentes passieren muss. An dieser Stelle
kommt also der zweite Pol ins Spiel – die Geste, das Unkonkrete, das aus
dem Bauch kommende – eine expressive Malerei mit breitem Pinsel. Die
heftigen, breiten Pinselstrukturen legen sich wie ein Rauschen über die
Welt, sie verschleiern und verwischen das Konkrete und Wiedererkennbare.
Das gehört zum Gollerschen Experimentieren dazu. Dass er dem
Unvorhergesehenen Raum lässt, dass er dem Werk einen offenen Ausgang
zugesteht, dass er Veränderungen und Entwicklungen duldet, die am Anfang
des Experimentes noch gar nicht auf der Tagesordnung standen. Dieser
Prozess darf natürlich nicht ins Uferlose abdriften. Goller hat dafür eine
eigenwillige Methode entwickelt, welche ihm erlaubt, entsprechend
gegenzusteuern. Es sind die kleinen Sichtfenster oder auch Maskierungen,
die er in Form von kleinen Rechtecken, mitunter nur Scheckkartenformate,
in die Gemälde einbaut. Während des Malprozesses überklebt er einzelne
Stellen mit Papier und versucht, diese beim Weiterarbeiten zu ignorieren,
sie zu vergessen. Später zieht er das Papier wieder ab und findet so ein
früheres Stück seiner Arbeit wieder, ein Fragment sozusagen, konserviert,
hinübergerettet ins das spätere, bestenfalls finale Stadium des Bildes.
Damit gelingt es ihm, mehrere Zeitschichten und auch Bedeutungsebenen im
Bild sinnfällig zu verbinden.
Und das Autistische? Hier darf der Künstler selbst Wort kommen:
„Autistisch bedeutet zunächst Verzicht. Unfreiwillig zwar, doch wenn
angenommen, auch ein Weg zu innerer Erneuerung.“ Damit sind wir eigentlich
bei einer Art Begründung für seine Malerei angelangt. Es ist eine Art
Selbstbehauptung. Die konkrete Welt kann vieles bieten, aber es ist auch
ein Überangebot, dessen man schnell überdrüssig, im schlimmsten Fall davon
krank werden kann. Da ist es gut, wenn man sich auf das Eigene, auf das,
was aus einem selbst, aus dem Inneren kommt, verlassen kann. Und dafür –
wie man sieht – reicht auch das Schwarzweiß. Quod erat demonstrandum.
Alexander Stoll, 9/2010